Gegenstand des GK ist unter dem Stichwort 'Pragmatisierung' die Funktionalisierung von
Literatur fⁿr Ziele, Strategien und Theoriebildung anderer Kⁿnste, einzelner Wissenschaften
oder verschiedener Arten sozialen Handelns, unter dem Stichwort 'Entpragmatisierung' das
gleichzeitige Akzentuieren der konstitutiven Freiheit der Literatur und ihre Abl÷sung von
Fremdbestimmung. Zur Debatte stehen dabei nicht statische Bestimmungen der Literatur, sei
es als heteronom, sei es als autonom, sondern Prozesse der Funktionalisierung bzw. der
VerselbstΣndigung: deren Regeln, GesetzmΣ▀igkeiten, typische VerlΣufe, sowie deren materielle,
kulturspezifische und mediale Grundlagen. Weiter wird nach den Konsequenzen der jeweiligen
Prozesse der Pragmatisierung und Entpragmatisierung fⁿr das literarische Schaffen
gefragt: Ansprⁿche oder Erwartungen bestimmter Pragmatisierungen (in Annahme oder
Abwehr) haben sich immer wieder als entscheidende Ausl÷ser literarischer Innovationen wie
des Wandels im Denken ⁿber Literatur erwiesen. Ebenso wird nach Konsequenzen fⁿr die
faktische Rezeption wie fⁿr das sich herausbildende VerstΣndnis von Literatur gefragt (Konsequenzen
fⁿr Literaturtheorie, ─sthetik, Poetik).
Da▀ Kⁿnste in Wechselwirkungen stehen, da▀ sich literarische PhΣnomene im
Deutungshorizont transliterarischer Bezugssysteme (der Wissenschaften, des sozialen, des
kommunikativen Handelns) erschlie▀en, ist selbstverstΣndlich und war schon Gegenstand
vielfΣltiger interpretatorischer Arbeiten wie theoretischer und methodologischer Entwⁿrfe. Das
Ziel dieser Bemⁿhungen war aber in der Regel, ein hierarchisches VerhΣltnis zwischen den
verschiedenen Systemen zu bestimmen, um das eine aus dem anderen herzuleiten, oder aber
das literaturtheoretische bzw., weiter zurⁿckliegend, das poetologische Interesse war auf eine
grundsΣtzliche Entscheidung fⁿr Funktionszuweisung oder Autonomie der Literatur gerichtet.
Wenn die FunktionalitΣt betont wurde, was bis ins 18. Jahrhundert die Regel war, zwar nicht
der Literatur selbst, wohl aber der poetologischen Reflexion, dann stand der Entwurf bzw. der
Nachweis eines
bestimmten
Funktionszusammenhanges zur Debatte, war mithin die prinzipielle
Frage nach der Bedingung der M÷glichkeit einer Pragmatisierung der Literatur gerade nicht im
Blick. Gegenⁿber solch ebenso einseitiger wie einsinniger Reflexion wird mit dem Doppelterminus
'Pragmatisierung/Entpragmatisierung' angezeigt, da▀ beide Prozesse stets zugleich im
Spiel sind. Zur Debatte steht, wie sich die eine Bestimmung der Literatur mit ihren Prinzipien,
Implikationen und Forderungen in der gegenlΣufigen Bestimmung ausbreitet oder wie sich die
eine gegen die andere abschottet. Markanter als die anderen Kⁿnste steht die Literatur von
jeher 'auf der Grenze': als mimetisch und a-mimetisch zugleich, funktional und disfunktional,
sozial und a-sozial, bedingt und unbedingt.
Der Literatur ist ein konstitutiver Widerstand gegen Einbettung in funktionale
ZusammenhΣnge eigen, dem explizit Σsthetische Reflexion dann immer wieder eine
systematische Begrⁿndung zu geben versucht hat. Diese grundlegende Resistenz gegenⁿber
heteronomen Bestimmungen erklΣrt erst, da▀ von den frⁿhesten Zeugnissen poetologischer
Entwⁿrfe an immer wieder mit Nachdruck betont und ausgearbeitet worden ist,
da▀ Literatur eine Funktion habe (etwa eine kultische oder eine pΣdagogische oder
formal eine ÷ffentliche aufgrund der spezifischen Art ihrer PrΣsentation) und da▀
sie dementsprechende inhaltliche und formale Strukturen auszubilden habe:
das
literarische Schaffen als Feld der Pragmatisierung
,
da▀ die Dichter nicht lⁿgen:
die literarische Mimesis als Feld der Pragmatisierung
,
da▀ Literatur beim Rezipienten eine bestimmte (z.B. kathartische) Wirkung haben mⁿsse
und durch diese definiert werden k÷nne:
die literarische Rezeption als Feld der
Pragmatisierung
.
Der Vorgang der Entpragmatisierung der Literatur wird offenbar, sobald er Boden
gewinnt, als suspekt aufgefa▀t. Entsprechend antworten ihm immer neue Bemⁿhungen der
Repragmatisierung. Sobald aber, diesen folgend, die Literatur in einen
Funktionszusammenhang eingebettet und hierdurch definiert wird, scheint es ein Bedⁿrfnis zu
geben, am literarischen PhΣnomen gegenlΣufig gerade die wesensmΣ▀ige UnabhΣngigkeit gegenⁿber
heteronomen Bestimmungen herauszustellen. So erweist sich z.B. die
Poetikdiskussion des 18. Jahrhunderts als fortgesetzte Auseinandersetzung mit der Erfahrung,
da▀ die Indienstnahme der Dichtung fⁿr aufklΣrerische Zwecke eben die Dichtung aush÷hlt,
da▀ die jeweilige FunktionalitΣt aber zugleich das Legitimationskriterium der Dichtung ist.
Weiter zugespitzt zeigt sich dieses literaturgeschichtliche wie -theoretische Dilemma dann im
20. Jahrhundert in der Literatur und in den Literaturdebatten sozialistischer
Gesellschaftsformationen.
Nachdem im 18. Jahrhundert erstmals die Gegenposition zu der in der poetologischen
Reflexion bis dahin dominanten Pragmatisierung der Literatur umfassend und systematisch begrⁿndet
worden ist, lassen sich z.B. fⁿr die deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts
immer neue Wellen der Repragmatiserung erkennen: die Parteilichkeitsdebatte der VormΣrz-Literatur,
die Realismusdebatte der zweiten HΣlfte des 19. Jahrhunderts bis hin zur naturalistischen
Pragmatisierung der Literatur, die insbesondere literarisch formierte Erneuerungsbewegung
im Expressionismus, die verschiedenen Politisierungen der Literatur seit den
Zwanziger Jahren.
GegenwΣrtig scheint der Aspekt der Entpragmatisierung der Literatur fraglos dominant,
zugleich aber als Paradigma ersch÷pft. Manifest wird dies in einer eigenartigen Abschottung
der neueren Literaturtheorie gegenⁿber der pragmatischen Philosophie, obwohl sie auf gleicher
Grundlage aufbaut, der neostrukturalistischen Zeichentheorie und deren anti-metaphysischen
wie anti-essentialistischen Folgerungen. Diskursanalytik, Konzepte der IntertextualitΣt und
Dekonstruktion akzentuieren am literarischen Proze▀ ein unendliches Verweisungsspiel der
Zeichen. Der Pragmatismus betont gleichfalls, da▀ es keine nichtsprachliche Begegnung mit
der Welt gibt, also keine M÷glichkeit, hinter die Sprache zu gelangen. Die Frage, ob die
solcherart immer sprachlich vermittelte Erkenntnis der Dinge dem 'eigentlichen Sosein der
Dinge' angemessen sei, aus der Theoretiker des Neostrukturalismus (z.B. Lacan, Derrida, de
Man) Philosophien des 'Mangels' entwickelt haben, auf denen die derzeit leitenden literaturtheoretischen
Entwⁿrfe aufbauen, ersetzt der Pragmatismus (z.B. Richard Rortys) durch
die Frage, ob unsere Beschreibungsverfahren der Dinge gⁿnstig sind fⁿr die gesetzten Zwecke.
Der Pragmatismus erweist sich so als 'die andere Seite' der (vom Nominalismus der frⁿhen
Neuzeit bis hin zum Neostrukturalismus) betonten Sprachlichkeit, RelationalitΣt, Kontingenz
des menschlichen Zugangs zur Welt. Diese 'andere Seite' erscheint in der gegenwΣrtig
dominanten Literatur wie Literaturtheorie im Status des Vergessenen oder VerdrΣngten,
verbunden mit Symptomen der Wiederkehr des VerdrΣngten, etwa in der ╓ffnung zu einer
neuen Metaphysik der PrΣsenz oder im Betonen des 'Ereignischarakters' (also der Nicht-
RelationabilitΣt) der Kunst oder in der neuerlichen Konjunktur des Erhabenen usf. Gerade im
Gegenzug zu dieser problematischen Auseinanderentwicklung fragt das GK mit 'Pragmatisierung
/ Entpragmatisierung' nach der Literatur als prominenter und von jeher in dieser Konstellation
reflektierter 'Schnittstelle' von Sprachlichkeit und Handeln.
Aus den bisherigen Darlegungen ergeben sich fⁿr die Fragestellung des
Graduiertenkollegs folgende leitende Akzente:
Pragmatisierung/Entpragmatisierung
der Literatur werden als stets
zugleich im Proze▀
befindliche
VorgΣnge aufgefa▀t.
Das verlangt, der Fragestellung eine umfassende
historische Tiefe
zu geben, insofern die
Doppelorientierung als schon immer wirksam anzusetzen ist, ablesbar an den
Funktionszuweisungen der Literatur
von der antiken Poetik-Reflexion an
, die als
Reaktion auf virulente gegenlΣufige Orientierungen zu fassen sind.
Aus beidem folgt, da▀ ein
weiter Begriff von Pragmatisierung
zugrundezulegen ist, ein
Begriff, der auch Entwicklungen vor dem 18. Jahrhundert zu fassen vermag, das
die Polarisierung Pragmatisierung - Entpragmatisierung erstmals theoretisch entwirft,
zugleich ein Begriff, der ⁿber soziales Handeln als Feld der
Funktionsbestimmung von Literatur hinausreicht (z.B. die lange Tradition
theologischer oder psychologischer Pragmatisierung zu erfassen vermag).
Die fⁿr das 20. Jahrhundert vielleicht als prominent erwartete
politisch-soziale
Pragmatisierung der Literatur
erweist sich bei der angezeigten historischen
Vertiefung und sachlich gebotenen Erweiterung des Pragmatisierungsbegriffs nur
noch als
eine Variante neben vielen anderen
.
Die Frage nach Pragmatisierung/Entpragmatisierung der Literatur wird auf
verschiedenen Ebenen der Theoriebildung und interpretatorischen Integration gestellt:
komparatistisch
an verschiedenen Literaturen und den mit diesen jeweils gesetzten
kulturellen Traditionen,
theoretisch
in Filiationen der Literaturtheorie, Gattungstheorie, ErzΣhltheorie,
Poetologie,
historisch/synchron
in der Konzentration auf Epochenschwellen (z.B. die SpΣtantike, die
frⁿhe Neuzeit, die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Grundlegung der
klassischen Moderne, die gegenwΣrtige Situation) und auf klassische Perioden.
historisch/diachron
, zentriert um bestimmte Felder der Funktionszuweisung (z.B. der
Theologie) oder um bestimmte Strategien heteronomer Bestimmung (z.B. der
persuasio-Strategie der Rhetorik),
intermedial
, z.B. in der Frage nach produktiven Interrelationen zwischen Literatur und
Bildender Kunst oder nach der theatralischen Pragmatisierung der Literatur und
der Gegenbewegung hierzu,
medientechnologisch
mit der Frage, inwiefern die neuen Medientechniken grundlegend
geΣnderte Teilnahme an literarischen Prozessen erm÷glichen (interaktive
Mediennutzung, Hypertext, virtuelle RealitΣt) und entsprechend andere
Produktionsstrategien hervorrufen,
textanalytisch
mit der Frage nach je spezifischen Verfahren der Zeichenbildung und
Bedeutungskonstitution in pragmatisierender / entpragmatisierender Absicht.
Das Graduiertenkolleg wird folgende Forschungsschwerpunkte umgreifen:
[Nachfolgend werden nur die Themen aufgefⁿhrt. Beschreibungen der Schwerpunkte mit
Angaben zu jeweils wichtiger Forschungsliteratur, eigenen Vorarbeiten und m÷glichen
Dissertationsprojekten werden unter Punkt 4
gegeben.]
Das Spannungsfeld von 'prodesse et delectare' in der lateinischen Literatur seit der
SpΣtantike und in der deutschen Literatur der frⁿhen Neuzeit:
Lateinisches Lehrgedicht und lateinische Epik seit der SpΣtantike (bei punktuellem
Einbeziehen mittel- und neulateinischer Literatur).
Pragmatisierung / Entpragmatisierung im 18. und frⁿhen 19. Jahrhundert: Grundlagen,
Spannungsfelder und Antworten in neuen literarischen wie theoretischen Konzepten:
Das VerhΣltnis von Literatur und funktionalen Diskursen in Frankreich zwischen 1750
und 1830.
Die literaturtheoretischen Debatten von Gottsched bis zur Romantik als eine Vorgeschichte
der Realismusdiskussion.
Kants
Kritik der Urteilskraft
als theoretische Grundschrift zum Thema des GK;
theoretische und literarische Aneignungen der Position Kants in der deutschen Literatur
der Kunstperiode.
Pragmatisierungs- und Entpragmatisierungsschⁿbe in der amerikanischen Literatur des
ausgehenden 18. und frⁿhen 19. Jahrhunderts.
Dichtung als Organon der Religion / Religion als Organon der Dichtung in der
deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts (christliche Tradition) und der Wende vom
19. zum 20. Jahrhundert (jⁿdische Tradition):
Die Beziehung zur (christlichen) Religion in der Entwicklung der deutschen Literatur
im 18. Jahrhundert.
Zionismus - Messianismus: die neue (jⁿdisch) religi÷se Orientierung in der deutschen
Literatur der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowie bei Franz Kafka und Paul
Celan.
Die slavischen Literaturen im Kontext der Pragmatisierungs- und Ent-
pragmatisierungsproblematik.
Literarische Skepsis, der literarische Narr, Literatur als Widerstand:
Entwicklung, Begrⁿndung und spezifische Strukturen literarische Skepsis / skeptischer
Literatur in der frⁿhen Neuzeit.
Geschichte des literarischen Narren.
Literatur als Widerstand. Ein dominantes Begrⁿndungskonzept der deutschen
Literatur im 20. Jahrhundert.
Historio-Graphie als Feld von Pragmatisierung / Entpragmatisierung der Literatur:
Historismus und literarische Moderne, Geschichte durch ErzΣhlung - ErzΣhlung duch
Geschichte:
Historismus und literarische Moderne.
Geschichte durch ErzΣhlung - ErzΣhlung durch Geschichte.
Pragmatisierung / Entpragmatisierung in den Relationen Sprache und Bild, Text und
Theater:
Ekphrasis: Kunstbeschreibung als Versuch, die unⁿberbrⁿckbare Kluft
zwischen Sprache und Bild zu ⁿberbrⁿcken.
Wider die Geschlossenheit der ReprΣsentation: die theatralischen und
dramatischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts als Akte gegen die
Grundhandlung des Theaters.
ErzΣhlen im Kontext der Massenmedien:
Journalismus als ErzΣhlen.
ErzΣhlen im Film.
Minimalismus/Neorealismus: ─sthetik der Sachlichkeit im Zeichen der Post-Postmoderne.