2.2. Forschungsprogramm

Gegenstand des GK ist unter dem Stichwort 'Pragmatisierung' die Funktionalisierung von Literatur fⁿr Ziele, Strategien und Theoriebildung anderer Kⁿnste, einzelner Wissenschaften oder verschiedener Arten sozialen Handelns, unter dem Stichwort 'Entpragmatisierung' das gleichzeitige Akzentuieren der konstitutiven Freiheit der Literatur und ihre Abl÷sung von Fremdbestimmung. Zur Debatte stehen dabei nicht statische Bestimmungen der Literatur, sei es als heteronom, sei es als autonom, sondern Prozesse der Funktionalisierung bzw. der VerselbstΣndigung: deren Regeln, GesetzmΣ▀igkeiten, typische VerlΣufe, sowie deren materielle, kulturspezifische und mediale Grundlagen. Weiter wird nach den Konsequenzen der jeweiligen Prozesse der Pragmatisierung und Entpragmatisierung fⁿr das literarische Schaffen gefragt: Ansprⁿche oder Erwartungen bestimmter Pragmatisierungen (in Annahme oder Abwehr) haben sich immer wieder als entscheidende Ausl÷ser literarischer Innovationen wie des Wandels im Denken ⁿber Literatur erwiesen. Ebenso wird nach Konsequenzen fⁿr die faktische Rezeption wie fⁿr das sich herausbildende VerstΣndnis von Literatur gefragt (Konsequenzen fⁿr Literaturtheorie, ─sthetik, Poetik).
Da▀ Kⁿnste in Wechselwirkungen stehen, da▀ sich literarische PhΣnomene im Deutungshorizont transliterarischer Bezugssysteme (der Wissenschaften, des sozialen, des kommunikativen Handelns) erschlie▀en, ist selbstverstΣndlich und war schon Gegenstand vielfΣltiger interpretatorischer Arbeiten wie theoretischer und methodologischer Entwⁿrfe. Das Ziel dieser Bemⁿhungen war aber in der Regel, ein hierarchisches VerhΣltnis zwischen den verschiedenen Systemen zu bestimmen, um das eine aus dem anderen herzuleiten, oder aber das literaturtheoretische bzw., weiter zurⁿckliegend, das poetologische Interesse war auf eine grundsΣtzliche Entscheidung fⁿr Funktionszuweisung oder Autonomie der Literatur gerichtet. Wenn die FunktionalitΣt betont wurde, was bis ins 18. Jahrhundert die Regel war, zwar nicht der Literatur selbst, wohl aber der poetologischen Reflexion, dann stand der Entwurf bzw. der Nachweis eines bestimmten Funktionszusammenhanges zur Debatte, war mithin die prinzipielle Frage nach der Bedingung der M÷glichkeit einer Pragmatisierung der Literatur gerade nicht im Blick. Gegenⁿber solch ebenso einseitiger wie einsinniger Reflexion wird mit dem Doppelterminus 'Pragmatisierung/Entpragmatisierung' angezeigt, da▀ beide Prozesse stets zugleich im Spiel sind. Zur Debatte steht, wie sich die eine Bestimmung der Literatur mit ihren Prinzipien, Implikationen und Forderungen in der gegenlΣufigen Bestimmung ausbreitet oder wie sich die eine gegen die andere abschottet. Markanter als die anderen Kⁿnste steht die Literatur von jeher 'auf der Grenze': als mimetisch und a-mimetisch zugleich, funktional und disfunktional, sozial und a-sozial, bedingt und unbedingt.
Der Literatur ist ein konstitutiver Widerstand gegen Einbettung in funktionale ZusammenhΣnge eigen, dem explizit Σsthetische Reflexion dann immer wieder eine systematische Begrⁿndung zu geben versucht hat. Diese grundlegende Resistenz gegenⁿber heteronomen Bestimmungen erklΣrt erst, da▀ von den frⁿhesten Zeugnissen poetologischer Entwⁿrfe an immer wieder mit Nachdruck betont und ausgearbeitet worden ist, Der Vorgang der Entpragmatisierung der Literatur wird offenbar, sobald er Boden gewinnt, als suspekt aufgefa▀t. Entsprechend antworten ihm immer neue Bemⁿhungen der Repragmatisierung. Sobald aber, diesen folgend, die Literatur in einen Funktionszusammenhang eingebettet und hierdurch definiert wird, scheint es ein Bedⁿrfnis zu geben, am literarischen PhΣnomen gegenlΣufig gerade die wesensmΣ▀ige UnabhΣngigkeit gegenⁿber heteronomen Bestimmungen herauszustellen. So erweist sich z.B. die Poetikdiskussion des 18. Jahrhunderts als fortgesetzte Auseinandersetzung mit der Erfahrung, da▀ die Indienstnahme der Dichtung fⁿr aufklΣrerische Zwecke eben die Dichtung aush÷hlt, da▀ die jeweilige FunktionalitΣt aber zugleich das Legitimationskriterium der Dichtung ist. Weiter zugespitzt zeigt sich dieses literaturgeschichtliche wie -theoretische Dilemma dann im 20. Jahrhundert in der Literatur und in den Literaturdebatten sozialistischer Gesellschaftsformationen.
Nachdem im 18. Jahrhundert erstmals die Gegenposition zu der in der poetologischen Reflexion bis dahin dominanten Pragmatisierung der Literatur umfassend und systematisch begrⁿndet worden ist, lassen sich z.B. fⁿr die deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts immer neue Wellen der Repragmatiserung erkennen: die Parteilichkeitsdebatte der VormΣrz-Literatur, die Realismusdebatte der zweiten HΣlfte des 19. Jahrhunderts bis hin zur naturalistischen Pragmatisierung der Literatur, die insbesondere literarisch formierte Erneuerungsbewegung im Expressionismus, die verschiedenen Politisierungen der Literatur seit den Zwanziger Jahren.
GegenwΣrtig scheint der Aspekt der Entpragmatisierung der Literatur fraglos dominant, zugleich aber als Paradigma ersch÷pft. Manifest wird dies in einer eigenartigen Abschottung der neueren Literaturtheorie gegenⁿber der pragmatischen Philosophie, obwohl sie auf gleicher Grundlage aufbaut, der neostrukturalistischen Zeichentheorie und deren anti-metaphysischen wie anti-essentialistischen Folgerungen. Diskursanalytik, Konzepte der IntertextualitΣt und Dekonstruktion akzentuieren am literarischen Proze▀ ein unendliches Verweisungsspiel der Zeichen. Der Pragmatismus betont gleichfalls, da▀ es keine nichtsprachliche Begegnung mit der Welt gibt, also keine M÷glichkeit, hinter die Sprache zu gelangen. Die Frage, ob die solcherart immer sprachlich vermittelte Erkenntnis der Dinge dem 'eigentlichen Sosein der Dinge' angemessen sei, aus der Theoretiker des Neostrukturalismus (z.B. Lacan, Derrida, de Man) Philosophien des 'Mangels' entwickelt haben, auf denen die derzeit leitenden literaturtheoretischen Entwⁿrfe aufbauen, ersetzt der Pragmatismus (z.B. Richard Rortys) durch die Frage, ob unsere Beschreibungsverfahren der Dinge gⁿnstig sind fⁿr die gesetzten Zwecke. Der Pragmatismus erweist sich so als 'die andere Seite' der (vom Nominalismus der frⁿhen Neuzeit bis hin zum Neostrukturalismus) betonten Sprachlichkeit, RelationalitΣt, Kontingenz des menschlichen Zugangs zur Welt. Diese 'andere Seite' erscheint in der gegenwΣrtig dominanten Literatur wie Literaturtheorie im Status des Vergessenen oder VerdrΣngten, verbunden mit Symptomen der Wiederkehr des VerdrΣngten, etwa in der ╓ffnung zu einer neuen Metaphysik der PrΣsenz oder im Betonen des 'Ereignischarakters' (also der Nicht- RelationabilitΣt) der Kunst oder in der neuerlichen Konjunktur des Erhabenen usf. Gerade im Gegenzug zu dieser problematischen Auseinanderentwicklung fragt das GK mit 'Pragmatisierung / Entpragmatisierung' nach der Literatur als prominenter und von jeher in dieser Konstellation reflektierter 'Schnittstelle' von Sprachlichkeit und Handeln.
Aus den bisherigen Darlegungen ergeben sich fⁿr die Fragestellung des Graduiertenkollegs folgende leitende Akzente: Die Frage nach Pragmatisierung/Entpragmatisierung der Literatur wird auf verschiedenen Ebenen der Theoriebildung und interpretatorischen Integration gestellt:

Das Graduiertenkolleg wird folgende Forschungsschwerpunkte umgreifen:

[Nachfolgend werden nur die Themen aufgefⁿhrt. Beschreibungen der Schwerpunkte mit Angaben zu jeweils wichtiger Forschungsliteratur, eigenen Vorarbeiten und m÷glichen Dissertationsprojekten werden unter Punkt 4 gegeben.]

Das Spannungsfeld von 'prodesse et delectare' in der lateinischen Literatur seit der SpΣtantike und in der deutschen Literatur der frⁿhen Neuzeit:

  1. Lateinisches Lehrgedicht und lateinische Epik seit der SpΣtantike (bei punktuellem Einbeziehen mittel- und neulateinischer Literatur).
  2. Rhetorik frⁿhneuhochdeutscher literarischer Texte.

Pragmatisierung / Entpragmatisierung im 18. und frⁿhen 19. Jahrhundert: Grundlagen, Spannungsfelder und Antworten in neuen literarischen wie theoretischen Konzepten:

  1. Das VerhΣltnis von Literatur und funktionalen Diskursen in Frankreich zwischen 1750 und 1830.
  2. Die literaturtheoretischen Debatten von Gottsched bis zur Romantik als eine Vorgeschichte der Realismusdiskussion.
  3. Kants Kritik der Urteilskraft als theoretische Grundschrift zum Thema des GK; theoretische und literarische Aneignungen der Position Kants in der deutschen Literatur der Kunstperiode.
  4. Pragmatisierungs- und Entpragmatisierungsschⁿbe in der amerikanischen Literatur des ausgehenden 18. und frⁿhen 19. Jahrhunderts.

Dichtung als Organon der Religion / Religion als Organon der Dichtung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts (christliche Tradition) und der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (jⁿdische Tradition):

  1. Die Beziehung zur (christlichen) Religion in der Entwicklung der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert.
  2. Zionismus - Messianismus: die neue (jⁿdisch) religi÷se Orientierung in der deutschen Literatur der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowie bei Franz Kafka und Paul Celan.

Die slavischen Literaturen im Kontext der Pragmatisierungs- und Ent- pragmatisierungsproblematik.

Literarische Skepsis, der literarische Narr, Literatur als Widerstand:

  1. Entwicklung, Begrⁿndung und spezifische Strukturen literarische Skepsis / skeptischer Literatur in der frⁿhen Neuzeit.
  2. Geschichte des literarischen Narren.
  3. Literatur als Widerstand. Ein dominantes Begrⁿndungskonzept der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert.

Historio-Graphie als Feld von Pragmatisierung / Entpragmatisierung der Literatur: Historismus und literarische Moderne, Geschichte durch ErzΣhlung - ErzΣhlung duch Geschichte:

  1. Historismus und literarische Moderne.
  2. Geschichte durch ErzΣhlung - ErzΣhlung durch Geschichte.

Pragmatisierung / Entpragmatisierung in den Relationen Sprache und Bild, Text und Theater:

  1. Ekphrasis: Kunstbeschreibung als Versuch, die unⁿberbrⁿckbare Kluft zwischen Sprache und Bild zu ⁿberbrⁿcken.
  2. Wider die Geschlossenheit der ReprΣsentation: die theatralischen und dramatischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts als Akte gegen die Grundhandlung des Theaters.

ErzΣhlen im Kontext der Massenmedien:

  1. Journalismus als ErzΣhlen.
  2. ErzΣhlen im Film.

Minimalismus/Neorealismus: ─sthetik der Sachlichkeit im Zeichen der Post-Postmoderne.



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© '96 Deutsches Seminar, UniversitΣt Tⁿbingen Letzte Änderung: 23.07.96